Aller Anfang ist wesentlich

Erinnerst du dich an den heißen Sommer 2003? Der letzte Regentropfen für viele Monate sind am 1. Juni gefallen. Ich erinnere mich daran, weil meine Mutter an diesem Tag ihren 70. Geburtstag gefeiert hatte. Danach folgten Hitzetage, die sich um die 35 Grad eingependelt hatten. Ich war mit dem zweiten Kind schwanger und hatte das Gefühl, das Kind im Leib gar zu kochen. Erst im September kühlten die Nächte auf angenehme Temperaturen ab.

In der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober fegte mit einem Temperatursturz ein Herbststurm übers Land. Die Fensterläden rüttelten, als um drei die Fruchtblase platzte. In der Zeit, in der die Hebamme noch die Kontaktlinsen in die Augen balancierte, platzte der stramme Junge bereits mit einer Sturzgeburt in das kühle Wohnzimmer. Der Vater hatte gerade noch ein warmes Lager herrichten können. Um den Schwedenofen einzuheizen, hatte es nicht gereicht. Die Hebamme versorgte Mutter und Kind, die sich mit Wärmeflaschen, in dicke Decken gehüllt von der schnellen Aktion zu erholen versuchten. 

 

Der Junge war nicht warm zu bekommen und sein Atem ging unregelmässig. Die Hebamme machte sich Sorgen, mochte die Verantwortung nicht alleine tragen und alarmierte den zuständigen Hausarzt. Dieser weilte mit seiner Familie im Wanderurlaub und es war nicht zu umgehen, dass das Kind zur Überwachung ins Krankenhaus musste. Der Neugeborene düste mit Blaulicht im Krankenwagen davon und ich Frischentbundene vom Kindsvater chauffiert im holperigen Renault Kangoo hinterher. Der kleine Kerl kam auf die Neonatologie und ich drei Stockwerke getrennt auf die Gynäkologie. Es war für mich reinste Qual mit der frischen Geburtswunde, durch die elend langen Krankenhausflure tappen zu müssen, um mein Kind zu sehen.

Mir zerfetzte es das Herz, dieses Wunder, dessen zarte Haut von Kanülen gelöchert und mit medizinischen Klebstreifen zugepflastert war, in diesem Laboratorium liegen zu sehen. Das Kind gehörte doch an meinen warmen, vollen Busen! Ich war zu wund, um mich der medizinischen Autorität zu widersetzen. Als nach 24 Stunden immer noch nicht nachzuweisen war, dass ihm etwas fehlte, machte sich zum Glück der Vater stark und wir durften, nachdem wir unterschrieben hatten, dass wir die volle Verantwortung (als ob wir Eltern diese je abgetreten hätten..) für das Kind übernehmen, endlich nach Hause. In das warme Nest. Das Wochenbett zu Hause war abgesehen von den Läusen, die die Tochter aus der Schule importiert hatte, die beim Kuscheln mit dem kleinen Bruder und mir auf meinen Kopf hüpften, wie es sein musste: entspannt, warm und liebevollst umsorgt von Mann und Umfeld. 

 

Natürlich konnte ich nachvollziehen, dass es medizinisch betrachtet sinnvoll gewesen war, ihn zu überwachen. Ich kann verstehen, dass die Hebamme Angst hatte und keine Verantwortung für Spätschäden übernehmen wollte. Es hatte sich zum Glück herausgestellt, dass ihm nichts gefehlt hatte. Der Bub war einfach nur unterkühlt und hätte an der nackten Mutter- oder Vaterhaut unter dicke Felle geschichtet, am offenen Feuer in der Höhle vor dem Unbill der Welt behütet werden müssen. 

 

Es war aber nicht nur diese dramatische Trennung nach der Geburt, die bei mir, meinem Mann und beim Kind traumatische Spuren hinterlassen hatte. Die Begleitumstände hatten es noch mehr in sich. Ich war zu dieser Zeit an zwei Tagen in der Woche in einem regionalen Asylzentrum als Sachbearbeiterin angestellt. An sich mochte ich meine Tätigkeit sehr. Die Koordinationsstelle war mit einer Sozialarbeiterin und mir besetzt. Wir betreuten rund 150 Flüchtlinge oder Asylsuchende aus verschiedensten Herkunftsländern, die in den umliegenden Dörfern untergebracht worden waren. Ich freute mich nach dem Mutterschaftsurlaub, die Tätigkeit wieder aufzunehmen und unser Wunschmodell, mit Partner die Erwerbs- und Erziehungsarbeit zu teilen, umzusetzen. Am ersten Arbeitstag im Januar ereilte mich die Hiobsbotschaft, dass meine Arbeitskollegin an Krebs erkrankt war und bis auf Weiteres wegen der Chemotherapie ausfallen würde. 

 

Zu Hause stellte sich diese Situation dar: Ein Säugling, den ich immer noch stillte, eine Vorpubertäre aus erster Ehe, die rebellierte und ein Partner, der im Begriff war seine Arbeitsstelle zu verlieren. Der mögliche Erwerbsausfall, Loyalität zum Arbeitgeber und eine naive Zuversicht, dass dies eine machbare Übergangssituation sein würde, bewogen mich dazu, das Pensum zu erhöhen und den Laden alleine zu schmeißen. 

 

Nun, die Klientel ist ja per se keine einfache. Im Asylwesen hat man es mit hochtraumatisierten Menschen zu tun, aber auch mit Personen, die aus Angst vor Abschiebung es mit der Wahrheit nicht immer genau nehmen. Dazu kommt, dass Justiz, Politik und Dorfbewohner einem mit Argusaugen auf die Finger schauen. An zwei Tagen pro Woche an der Seite mit einer routinierten Sozialarbeiterin in diesem komplexen Umfeld zu wirken ist ein Spaziergang.  Fünf Tage die Woche alleine in so einem Job ist Schleuderprogramm. Ich war heillos überfordert. Meinem Schrei nach Unterstützung wurde erst nach Wochen Folge geleistet. Und dies auch nur stundenweise. Ich schipperte monatelang an einer chronischen Erschöpfung vorbei. Der Antreiber im Hinterkopf: Als Familie brauchten wir das Einkommen und die Flüchtlinge konnten nicht im Stich gelassen werden. 

 

Weil die Verantwortlichen keinen vollwertigen Ersatz für meine erkrankte Kollegin stellten, brachte ich den Vorschlag, dass mein arbeitsloser Mann einspringen könnte. Ich erhoffte mir dadurch Entspannung auf allen Ebenen. Doch ich, die angeschlagene Mutterkuh, die in der Arena einen Kampf ausfocht, der nicht ihrer war, bekam im letzten Aufbäumen den finalen Todesstoß: Mein Mann wurde tatsächlich eingestellt, zu einem höheren Sozialarbeiterlohn als ich. Mein Mann sah es pragmatisch als Mehreinkommen für die Familie. Für mich bedeutete dies eine Demütigung und Herabwürdigung meines beispiellosen Einsatzes. Und doch war ich aus purer Erschöpfung nicht in der Lage, für mich einzustehen. Und: Die Flüchtlingsdramen nahmen wir vom Arbeitsplatz mit nach Hause, sie setzten sich zu uns an den Mittagstisch, schlüpften mit unter unsere Bettdecke und in meine nächtlichen Träume. 

 

Ein Jahr nach der Geburt des Sohnes kapitulierte ich. Diese Schlacht konnte ich nicht gewinnen. Ich kündigte. Meine Mitarbeiterin verstarb im Folgejahr. Mein Mann fand später eine Vollzeitstelle und ich seit 2004 nie mehr eine Anstellung. Die klassische Rollenteilung schenkte der Familie Ruhe und Kontinuität, verlangte von uns Eltern aber auf vielen Ebenen Abstriche und Kompromisse. Drei Kinder später wurde mir die Entscheidung, zum Wohl der Kinder zu Hause zu bleiben, zum Handicap. Ich schaffte den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben nicht. Jetzt lösen wir uns allmählich aus der Konvention. Wir sind als Paar daran, neue Formen zu finden, um Einkommen, unsere Berufung als Künstler (Musik & Literatur) und die Familienbedürfnisse unter einen Hut zu bringen. 

 

Der damalige Säugling und sein kleiner Bruder stehen heute mitten im Berufswahlsprozess. In diesem Zusammenhang ist mir die einschneidende Erfahrung wieder stark ins Bewusstsein gerückt. Wie wertvoll ist es, sich mit der eigenen Biografieauseinander zu setzen. Aus der Rückschau können Brüche und Stolpersteine verstanden und als Lektion integriert werden. Ich ziehe jetzt den Stachel der Demütigung aus dem Fleisch und lasse es endlich heilen: Die Tatsache, dass ich damals weniger Lohn bekam als meinem Mann, hatte eine politische Komponente und nichts mit mir, meiner Arbeit und meinem Wert zu tun! Ich hatte zu jeder Zeit mein Allerbestes gegeben und wenn Unterstützung gefehlt hatte, lag es daran, dass die Mitmenschen es nicht mitbekommen hatten oder ihnen die Hände gebunden waren. 

 

Heute würde ich achtsamer für mich selber sorgen und für mich einstehen. Ich würde mein Umfeld viel früher um Hilfe bitten. In der Schweiz braucht es auf politischer Ebene das Bewusstsein, wie wichtig die ersten Lebensmonate für das Wohl des Kindes, wie auch für die Eltern sind. Kinder sind keine Privatsache. Es braucht wirkungsvolle Gesetze zum Schutz der jungen Familie und der Kinder; ein gesetzlich verankerter Vaterschaftsurlaub oder Elternurlaub, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Teilzeitmodelle, bezahlbare Drittbetreuung, reelle Chancen für Wiedereinsteigerinnen auf dem Arbeitsmarkt, faire Pensionskassenmodelle für Mütter. Ich finde auch das bedingungslose Grundeinkommen ein reelles Modell zur Entspannung des Arbeitsmarktes, das Wert ist, geprüft zu werden.

 

Die Gesellschaft fängt bei der Kleinzelle an. Für ein Kind gibt es nichts Wichtigeres, als dass es willkommen ist, dass es ein Nest, die Geborgenheit und den Schutz der Gemeinschaft erfährt. Und dabei dürfen Mutter und Vater vom Staat nicht im Stich gelassen werden.