
Mein Pate war nach einem langen, reichen Leben sanft verstorben. Seine Urne sollte an seinem letzten Wohnort im Val Lumnezia beigesetzt werden. Der Weg vom Bodensee ins Bündnerland dauert rund dreieinhalb Stunden und bedingt mehrmaliges Umsteigen. Ich machte mich an diesem kalten Januartag auf die Reise. In Rorschach fuhr mein Zug pünktlich ein, es blieben mir fünfzehn Minuten bis zur Weiterfahrt. Also alle Zeit der Welt. In aller Gemütlichkeit wartete ich auf Gleis vier auf den Anschlusszug, die Anzeigetafel Chur 10.40 im Blickfeld. Also alles unter Kontrolle. Links und rechts von mir warteten andere Reisende. Eine Frau reckte ihr Gesicht den Sonnenstrahlen, die durch eine Lücke zwischen zwei Häusern einfielen, entgegen.
Ich wanderte in Gedanken zur bevorstehenden Beerdigung. Mein Pate Freddie hatte mir als Kind sehr viel bedeutet. Ich erinnerte mich an gemeinsame Spaziergänge in den Bergen, an seine Kauzigkeit, an seinen unverkennbaren Glarner Dialekt, den ich schwer verstand. Unweigerlich führte mich die Erinnerung auch zu seiner Frau, Tante Elsbeth. Sie, die mit der Aura der Grossstadt - Zürich war in meinem kindlichen Universum auf einem anderen Planeten - zu uns aufs Land wirbelte und von Trams, Taxis und Einkaufshäusern berichtete. Wenn die beiden uns besuchten, brachten sie immer etwas Aufregendes aus der Stadt mit, wie zum Beispiel Micamu Caramelzeltli aus der Migros.
Die Tante ist das Jahr zuvor verstorben und ich war damals an der Bestattung nicht dabei. Ihr letzter Wunsch war, nur im engsten Familienkreis eingeäschert zu werden. Mich hat ihre Entscheidung irritiert und zum Grübeln gebracht. Darf ein Mensch bestimmen, wer wie von ihm Abschied nehmen möchte? Wer hat die Hoheit über die Abschiedsfeier? Haben nicht alle Zurückgebliebenen, die in irgendeiner Weise eine Beziehung zu dem Menschen hatten, das Recht, an einer Bestattung teilzunehmen?
Ich bin in einer grossen Sippe gross geworden. Bei unseren Zusammenkünften ging es oft laut und lustig zu und her. Deswegen hatte es mich erstaunt, dass Freddie und Elsbeth still und leise gehen wollten und sich nicht mit Pauken und Trompeten ehren lassen wollten. Mit ihrem letzten Wunsch lernte ich noch einmal eine andere Seite von ihnen kennen. Wahrscheinlich spielt es keine Rolle, an welchem Ort man die Beziehung zu einem verstorbenen Menschen ehrt. So verschieden die Menschen sind, so verschieden sind die Möglichkeiten, sich an einander zu erinnern und sich zu würdigen.
Immer noch auf dem Perron wartend, kam mir auch meine bald 90-jährige Patin in den Sinn. Auch sie war mir als Kind eine inspirierende Bezugsperson. Sie schenkte mir unzählige Bücher, erzählte von Reisen und Kulturen. Ich klebte an ihren Lippen, wenn sie erzählte. Heute lebt sie im Altersheim. Mit Schrecken realisierte ich, dass ich sie schon über ein Jahr nicht besucht hatte. Ich nehme mir auf dem Gleis in Rorschach fest vor, sie bei der allernächsten Gelegenheit zu besuchen.
Dann bemerkte ich, dass die Sonnenanbeterin nicht mehr neben mir stand, dass sich der Perron geleert hatte. Verwundert blickte ich mich um und sah den Zug nach Chur ganz gemächlich Fahrt aufnehmen und aus dem Bahnhof entschwinden. Ich stand da wie ein begossener Pudel. Nach dem ersten Schreck und Verärgerung schickte ich mich drein und suchte die nächsten Verbindungen heraus. Die Fahrt durch das tiefverschneite Rheintal, durch das mit Puderzucker bestäubte Versamer Tobel war märchenhaft. Ich staunte, liess mich verzaubern und der verpennte Anschluss war schnell vergessen.
Ich kam viel zu spät, die Beisetzung hatte stattgefunden, die Familienangehörigen waren gerade im Begriff zum Leidmahl aufzubrechen. Es war mir ein grosses Anliegen, meine „Mission“ zu Ende zu führen und blieb alleine auf dem tief verschneiten Friedhof zurück. Pate und Tante ruhen in derselben Grabreihe nebeneinander. Auch dieser Wunsch Tante Elsbeths, hatte sich, weil sich in der Zwischenzeit niemand getraut hatte, abzuleben und sich zwischen die Eheleute zu quetschen, erfüllt.
Frische Blumen schmückten die blanke Erde auf Freddies Grab. Elsbeths Inschrift aus Stahllettern war vom Schnee freigewischt worden. Ich füllte mir heissen Tee aus der mitgebrachten Thermoskanne in den Becher und hielt mit den beiden Verstorbenen einen Schwatz. Die Sonne wärmte meine Wangen. Der Schnee blendete mich, sodass ich öfters die Augen zukneifen musste. Für eine Weile verwischten die scharfen Konturen zwischen Leben und Tod. Tiefe Ruhe und Einverständnis erfüllten mich. Irgendwann löste ich mich aus der Idylle und legte zum Abschluss einen Herzstein, den ich am Strand von Darwin gefunden hatte, den ich als Symbol für die Reise zwischen den Welten passend fand, auf die Stätte.
Bevor ich mich zu den Cousinen gesellte, lockte mich die märchenhafte Winterlandschaft zu einem Spaziergang. Das Bündner Dorf hatte unsere Verwandtschaft jeden Winter in die Berge gelockt und auf vielfältige Weise Begegnungen über Generationen ermöglicht. Mit Freddies und Elsbeths Ableben ist der Anker gehievt. Das Dorf wird nie mehr dieselbe Bedeutung für uns alle haben. Ich habe mich auf dem Spaziergang durch die tief verschneite Ebene auch von einer Ära verabschiedet.
Vom Kind zur Frau in voller Blüte herangereift, spürte ich eine laue Spätsommerstimmung aufkommen. Der Lebensherbst kündigt sich leise an. Jetzt wo Eltern, Onkel und Tanten langsam wegsterben, rutschen wir in der Generationenreihe nach. Auch meine Jahre sind gezählt. Der Tod ist Realität. Früher oder später fällt der letzte Vorhang.
Bei der Einkehr auf einem Sonnenbänklein, den Blick über das weite Tal schweifend, reifte in mir mein letzter Wunsch an meine Kinder, an meinen Liebsten, an die Mitmenschen: sagt mir doch bitte zu Lebzeiten, was ich euch bedeute. Sagt mir ins Gesicht, was stört, bereinigt an Ort und Stelle, was zwischen uns nicht in Frieden ist. Das möchte ich fortan selber auch beherzigen. Es ist nicht der Grabstein, der einen Menschen wichtig macht.
Es sind Gespräche, wahrhaftige Begegnungen, Zeugenschaft, die unser Leben reich machen. Unser Leben kann getrost Dellen und Brüche haben. Gelebte Aufrichtigkeit und Liebe möchte ich als Essenz im Herzen mit auf den letzten Flug mitnehmen. Wir sind zu jeder Zeit Reisende zwischen den Welten und je leichter das Gepäck, je weniger wir anhaften an einem Ort, an Gelübden, an Erwartungen und überholten Traditionen, desto leichter wird die Reise.