Der Fudi Engel

Ich ertappe mich dabei, dass ich manchmal auf Gläubige neidisch bin. Kirchgänger, die jeden Sonntag zur Kirche gehen oder Muslime, die freitags zur Moschee gehen, haben ihre wöchentlichen Rituale, bekommen Futter für die Seele und viel Gemeinschaft, in der auch Kinder ihren Platz haben. Da mir der Sinn abhanden gekommen ist, den Mann am Kreuz anzubeten, wir es in der Konsequenz auch nicht von unseren scharfsinnigen Kindern verlangen können, gehen wir nicht zum Gottesdienst und wir beten auch nicht zu Tisch. Ich mag die biblischen Geschichten sehr. Ich mag Jesus als aufmüpfigen Hippie. Doch da es mir als Feministin in der Kirche zu männerlastig ist, finde ich Mystik eher in der Natur, singe zu Walpurgis mit modernen Hexen um ein Waldfeuer oder meditiere. Als Familie fehlen uns wiederkehrende Rituale der Gemeinschaft. Dachte ich.

 

Bis neulich der Mittlere Lust hatte, am zweiten Advent den Christbaum aufzustellen. Wir hatten keine schlauen Argumente dagegen und so sind wir zum Bauern und haben uns eine kleine Tanne geholt. Die Umzugskiste mit der Weihnachtsdekoration lagert für den Sommerschlaf unter dem Dachgiebel. Dieser ist nur über eine Hühnerleiter zu erreichen. Es hätte mit Knochenbruch statt fröhlichem Dekorieren enden können.

 

Wir wickeln jedes Einzelteil fein säuberlich aus Seidenpapier, begrüßen jede glitzernde Kugel, jeden kitschigen Baumschmuck wie einen alten Freund. Der eine Stoffengel mit dem rosa Hintern ist seit Familiengründung vor mehr als zwanzig Jahre in der Kiste und wurde schon unzählige Male von Kinderhänden begrabscht und von Katzen zerzaust. Er hat alles überlebt. Mir wird ganz warm ums Herz, wie ich den knuffigen Himmelsboten auspacke. Die Buben summen Lars Christmas (Last Christmas) und Owi lacht (Stille Nacht – oh wie lacht) beim Schmücken. Jedes Jahr werden die kitschigen Krippenfiguren mit Schleichtieren oder Playmobilmännchen ergänzt und in einer unorthodoxen Szenerie angeordnet.

 

„Wir haben ja doch unsere Rituale!“ stelle ich freudig fest.

 

Das Baumschmücken und das Aufstellen der Krippe sind jährlich wiederkehrende Rituale, an denen die Kinder festhalten, auch wenn wir die Sache mit Jesus nicht ganz auf die Reihe bekommen. Ich schreibe währenddessen Karten zum Jahreswechsel. Auch das ist mir ein wertvoller Brauch geworden. Dabei reflektiere ich die Begegnungen unter dem Jahr und fühle mich jeweils reich beschenkt und zugehörig zu einem Netzwerk von wunderbaren Menschen.  

 

Beim weiter sinnieren über liebe Gewohnheiten, die uns Wärme und Halt geben, fällt mir etwas ein, was wie Zähneputzen zu unserem Alltag dazu gehört. Erst jetzt, wenn ich so darüber nachdenke, erkenne ich den Wert für uns als Familie, für die Beziehung zwischen uns Eltern und den Kindern. Jeden Abend lesen wir beiden Jungs aus einem von ihnen gewählten Buch vor und setzen uns zu ihnen auf die Bettkante. Dabei strecken sie uns ihre Hände und Füsse entgegen, die mal sanft berührt oder mit festem Druck geknetet werden möchten. Es ist die kostbare halbe Stunde des Tages, wo alle Rollen abfallen und in der Geborgenheit ganz viel Nähe möglich wird.

 

In dem milden Übergang vom Tag in die Nacht singen wir, philosophieren über den Himmel und das Menschsein oder wir Eltern erfahren von den Alltagssorgen der Kinder. In einem dieser Kuschelmomente sagte einmal unser jüngstes Kind: „Weißt du Mama, bevor ich zu Euch gekommen bin, lebte ich im Himmel und habe als Engel die Erde umkreist. Dann habe ich Dich, Papa und meine Geschwister entdeckt und gedacht, das ist eine coole Truppe! Da möchte ich als Baby zur Welt kommen.“

 

Wie wir unsern Baum fertig haben, schicke ich der Grossen, die flügge geworden ist und in der Innerschweiz lebt, eine Whatsapp mit dem geschmückten Baum als Wimmelbild:

 

„Christbaum Aufrichte – finde den Fudi Engel !

Die Antwort kam postwendend: „Den findet man immer!“