
Am Abend vom ersten Advent klingelte es an der Haustür. Wir hatten uns als Familie nach einer angespannten Woche bei Kerzenlicht und warmen Tee behaglich eingeigelt. Jeder werkelte vor sich hin und niemand war bereit zu öffnen. Also schickte ich mich drein und tappte unmotiviert zum Hauseingang, wo ich durch die Glasscheibe die Pudelmütze eines Kindes erkannte.
Unser Nachbarjunge schaute mich mit einem breiten Lächeln durch den Türspalt an und sagte fröhlich:
„Mama hat Gerstensuppe gemacht. Ihr seid herzlich eingeladen, mit anderen Nachbarn zum Feuer dazu zu stossen.“
Die Einladung war so liebenswürdig, dass sie uns tatsächlich aus der warmen Stube in die kalte Novembernacht locken konnte. Wir waren eine kleine Runde, die sich im Garten an Suppe und Brot wärmte. Beim Kerzenschein begann ein älterer und zurückgezogener Herr aus dem Quartier, mit dem wir bis zum diesem Zeitpunkt kaum einen Austausch hatten, von früher zu erzählen.
Seine Eltern lebten Ende des 19. Jahrhunderts im Schwarzwald. Wegen schlechten Ernten und Arbeitslosigkeit litten sie Hunger und packten die Chance, die der österreichische Kaiser Franz Joseph mit Landschenkungen, in der Wojwodina machte. Der Herrscher viele Ländereien beabsichtigte damit, den dünn besiedelten Landstrich unmittelbar an der serbisch-ungarischen Grenze zu bevölkern und zum Aufschwung verhelfen.
Tatsächlich siedelten viele aus dem Norden in das Gebiet des heutigen Serbiens. Unser Nachbar wurde dort geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges, sind die Russen vorgedrungen und unter Tito wurde das Land der Eltern annektiert. Der Vater war auf dem Heimweg aus dem Aktivdienst. Die Mutter fand mit den Kindern Zuflucht in einem Internierungslager, wo sie unter erbärmlichen Umständen leben und zusehen musste, wie die dreijährige Tochter vor Hunger verstarb.
Mit den letzten Kräften haben Mutter und der fünfjährige Sohn eine Reise der Hoffnung angetreten; dem Ehemann entgegen, zurück zu den Verwandten nach Deutschland. In Lumpen gekleidet und barfuss sind sie über Ungarn und Österreich bis nach Süddeutschland marschiert. Immer wieder haben sich unterwegs Bauern den Fremden erbarmt, haben sie versteckt oder gaben ihnen Almosen.
Für das letzte Stück der Reise bestiegen sie den Zug. Dies dank dem geschickten Händchen des Vaters, der während des Aktivdienstes mit Zigaretten und Schnaps gehandelt hatte und den Schaffner mit Naturalien bestechen konnte. Unser Nachbar erinnerte sich nicht, wann der Vater dazu gestossen war. Alles Erlebte vermischte sich in seiner kindlichen Erinnerung zu einem Patchwork aus einzelnen Bildern und Gefühlen. Die einzige Konstante auf der Odyssee war seine Mutter.
An die verblüfften Gesichter der Verwandten, die die Ankömmlinge mit Wagen und Anhänger am Bahnhof in Erwartung des Gepäcks empfingen, erinnerte er sich jedoch lebhaft. Ebenso an die erste warme Mahlzeit, die ihm seinen ausgehungerten Kinderbauch füllte.
Seine Geschichte klingt noch in mir nach. Es hat sich nichts verändert. Früher wie heute bewegen sich Menschen dorthin, wo es Hoffnung auf Schutz, Nahrung und Arbeit gibt. Früher wie heute sind Menschen dankbar, wenn wir ihnen freundlich gesinnt sind. Welch ein Segen sind Menschen, wie unsere Nachbarin, die zu einer Suppe einladen und Begegnungen ermöglichen.