
Anja und Martin wohnen in einer urbanen Wohnsiedlung im Vorort einer Schweizer Stadt. Beide sind Mitte zwanzig, berufstätig, sportlich und sehr aktiv. Auf den ersten Blick entsprechen sie dem „Easy-Going-Outdoor-Typus“. Geocaching ist ihre Passion, sie klappern jedes Open Air ab und touren gerne mit einem Hippiebus durch Europa. Was mir Anja neulich erzählte, rüttelte an meinen Schubladen, in die ich leider immer noch zu vorschnell Menschen ablege. Anja überraschte mich damit, dass sich moderne, junge Menschen in die Not einer frischgebackenen Kleinfamilie einfühlen können.
In die Nachbarwohnung waren ein Schweizer mit seiner chinesischen Frau und einem Neugeborenen eingezogen. Die Chinesin sprach kein Wort Deutsch und war erst kürzlich mit der Geburt des Kindes in die Schweiz gekommen. Der Vater musste tagsüber zur Arbeit, während die Mutter die Tage mit dem Säugling alleine in der Wohnung verbrachte. Ihre Freunde und Familie lebten im fernen China. Als wenn das nicht schon an sich eine einsame Angelegenheit wäre, entwickelte der Bub sich auch noch zu einem Schreikind. Wer in einem Wohnblock mit mehreren Parteien lebt, weiss was das bedeutet. Das Kind schrie. Stundenlang. Ohne Unterbruch. Es brüllte am Tag. Es weinte in der Nacht.
Anja und Martin leben Wand an Wand mit der Kleinfamilie und bekamen ungewollt den akustischen Terror des Kleinkindes mit. Der Abendfilm war stets vom herzerbärmlichen Nebengeräusch begleitet. Entspannung war unmöglich. An einem Abend sprang Anja auf, nahm ihren Mut zusammen, läutete an der Nachbarwohnung und platzte förmlich mit der Tür ins Haus:
„Hallo, ich heisse Anja und wohne mit Martin nebenan. Seid willkommen. Es freut mich, dass Ihr neu eingezogen seid. Es ist mir jetzt etwas unangenehm, so direkt zu sein, aber wir hören Euer Baby durch die Wand. Ich stelle mir vor, dass Deine Frau ziemlich am Anschlag sein muss. Möchtet Ihr ein wenig zu zweit spazieren gehen? Ich hüte das Baby für zwei Stunden.“
Der völlig verblüffte Vater, der den weinenden Säugling auf dem Arm trug, bat Anja herein und rief seine Frau. Diese schlurfte sichtlich abgekämpft in rosa Pantoffeln in den Flur. Die Eltern besprachen sich kurz in Englisch und nickten der Nachbarin zu. Anja band sich das Kind mit einem Wickeltuch um, trug es anschliessend wippend, singend, beruhigend durch ihre Wohnung. Der Junge brüllte unbeirrt weiter. Anja blieb ruhig, während sie kochte und den Tisch deckte. Sie wusste ja, dass sie das Schreikind später den Eltern wieder zurückbringen konnte.
Es spielte sich ein, dass Anja ein-zwei Mal in der Woche das Kind holte. Die Mutter streifte sich jeweils den Mantel über und verliess die Wohnung fluchtartig für die vereinbarte Zeit. Es sprach sich herum, andere Nachbarn hüteten das Kind oder luden das Paar ein. Einmal nahmen Anja und Martin den kleinen Jungen mit zum Samstagseinkauf in den Supermarkt. Zwischen kurzen Schlafintervallen schrie er auch da und erregte dadurch natürlich die Aufmerksamkeit der Wochenendeinkäufer. Besorgte Blicke, Stirnrunzeln und gut gemeinte Tipps bekam das junge Paar mit auf den Weg. Anja erwiderte einer Rentnerin, die sie auf das laute Kind aufmerksam machte: „Ja wir wissen, dass das Kind schreit. Danke!“ und realisierte, dass betroffene Eltern in solchen überforderten Situationen wahrscheinlich selber kaum so schlagfertig sein konnten.
Als Anja einmal nach der Arbeit nach Hause kam, hörte sie schon im Hausflur das Weinen aus ihrer eigenen Wohnung. Wie sie eintrat, erblickte sie Martin mit roten Kopfhörern an den Ohren, aus denen seine Lieblingsmusik drang. Am Boden stand eine Wippe, die er mit dem Fuss in Bewegung setzte, um den unermüdlichen Jungen zu beruhigen. Es bestätigte Anja und erfüllte sie mit grosser Freude; sie hatte den richtigen Partner an ihrer Seite und die Mutter des Kleinen konnte in diesem Moment durchatmen.
Heute - fünf Jahre später - ist der Junge munter und fröhlich. Er läutet manchmal bei den Nachbarn, um Hallo zu sagen. Man sagt er sei ein „gfreutes Chind“. Anja und Martin haben mit ihrer beherzten Aktion gleich auf mehreren Ebenen Grossartiges geleistet:
- aktive Integrationshilfe
- die Mutter vor einem Burn Out bewahrt
- Mediation (vielleicht sogar Scheidungsprävention) für das benachbarte Paar
- Verhinderung einer klassischen Ritalinkarriere des Jungen
- die Hausgemeinschaft zu Solidarität inspiriert
- nicht zuletzt haben sie ihre eigene Partnerschaft gestärkt
Einfach nur gross!