Ruben rennt

„No Problem Mami, das schaffe ich!“ sagte unser Jüngster, als wir die Hin- und Rückfahrt zur Physiotherapie besprachen. Er, der kleine Supersportler hat bedingt durch Wachstum und Fussballeifer Schmerzen in der Achillesferse, die wir durch gezielte Physiotherapie behandeln lassen. Ruben geht gern. Seine junge Physiotherapeutin ist eine Wucht.

 

Oft hat er die fünf Kilometer von uns bis ins Physiozentrum im Regionalspital souverän mit dem Fahrrad zurückgelegt. Das Postauto fährt von Haustüre zu Haustüre und ist als Transportmittel aus unzähligen Fahrten allen Familienmitgliedern vertraut. An diesem Dienstag musste unser Zehnjähriger den Weg ins übernächste Nachbardorf alleine machen, weil wir Eltern beruflich unterwegs waren. Ruben entschied sich für den Bus statt für das Velo. Nachdem der Tagesablauf minutiös besprochen war, verabschiedeten wir uns am Morgen voneinander.

 

Am Abend sass ich nach einem gelungenen Tag glücklich und aufgeräumt auf dem Heimweg in der SBB, als mich die Whatsapp Nachricht vom Vater erreichte und mein Mutterherz zum Hämmern brachte: „Ruben hat den falschen Bus erwischt, ist jetzt zu Hause. Mehr später.“

 

Diese Mitteilung hat mich volle Kanne an meinem wunden Punkt erwischt: Mutter nimmt sich Freiräume für ihre eigene Entwicklung und wenn etwas passiert, ist sie schuld. Mütter sind sowieso immer an allem schuld. Ich versetzte mich in den kleinen Kerl in der verirrten Situation und malte mir seine Ängste aus. Alleine im Zug mit all diesen Gedanken fühlte ich mich elend. Mit dem Kindsvater telefonieren mochte ich aber auch nicht. Denn Grundsatzgespräche auf Distanz führen aus Erfahrung zu nichts. Wichtig war die Gewissheit zu haben, dass Sohn wohlauf zu Hause und der Vater bei ihm war. Die Restfahrt kam mir unendlich lange und qualvoll vor. Ich war so sehr in Sorge, dass ich  am liebsten nach Hause gerannt wäre.

 

Was mir dann Ruben schilderte, erschütterte mich und ich war froh, dass ich es aus seinem Mund beim Gutenacht-Kuscheln hörte und nicht als Whatsapp Nachricht im Zug. Der Junge hatte nach der Physiotherapie einen Bus, der fünf Minuten früher als seiner fuhr, bestiegen. Plötzlich sei er beim Bahnhof Amriswil gelandet und dann habe er schon gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Er hätte keine Lust gehabt zu warten, bis der Bus zurückfuhr. Deshalb sei er nach Hause gelaufen. Von Amriswil bis zu uns sind es zehn Kilometer!

 

Zum Glück war der Vater zu Hause und hat den Jungen, der ausser Atem und sichtlich unter Schock stand, in Empfang genommen. Ruben musste die meiste Strecke durch das nicht ganz übersichtliche Amriswil, die kleinen Käffer, den Waldabschnitt und entlang der Überlandstrasse gerannt sein!  

 

Ich habe mir danach lange, lange Vorwürfe gemacht. Es hat Wochen gedauert, bis ich mich traute darüber zu sprechen. Hätte ich es anders organisieren sollen? Muss ich ab jetzt immer zu Hause bleiben und unsere Kinder zu allen Aussenaktivitäten begleiten? Bin ich eine Rabenmutter?

 

Nein ich bin eine Rubenmutter! Was ich heute mit Sicherheit anders machen würde, ist ihm ein Handy mitzugeben, damit er sich melden kann. Doch sonst komme ich zum Schluss, dass wir gar nichts haben verhindern können. Es kann allen passieren, dass sie Mal im falschen Bus sitzen. Manche sitzen sogar ein Leben lang im falschen Film. Ist es nicht eine Meisterleistung, was dieser Zehnjährige vollbracht hat!? Es gibt mir Vertrauen, dass er klug überlegen und Strategien entwickeln kann. Und das entspannt mich wieder, macht mich stolz auf den kleinen Kerl. Ein Glück war bestimmt, dass er dank seiner Fussballverrücktheit so fitte Beine hatte.

 

Es ist jetzt nicht so, dass ich meinen Kindern nur noch Gaggi*-Situationen zur Stählung ihres Überlebensinstinkts wünsche und ich in der Brutaufzucht nachlässig werde. Aber ich traue meinen drei Kids grundsätzlich vieles zu. Daran hat auch der Zwischenfall nichts geändert. Wir Eltern können unsere Kinder nicht vor allen Risiken bewahren. Das Leben ist per se ein Risiko. Ich habe mit meinen Kindern gelernt, dass es ihnen gut tut, wenn wir Eltern ihnen etwas zutrauen. Sie wachsen daran. Ruben ist, nachdem er sich vom Schock erholt und von uns Erwachsenen vernommen hatte, was er Aussergewöhnliches geleistet hatte, ein paar Zentimeter gewachsen. Innerlich unbedingt.

 

(*Gaggi = Schweizerdeutsch für Kacke, wird familienintern als Begriff für etwas, was einem ziemlich stinkt und einen fordert, verwendet.)