
Hinterm Horizont geht es weiter
Der erste Mensch, den ich habe sterben sehen, war mein Grossvater. Vorher ist mir der Tod nur bei Tieren begegnet. Es gab manchmal eine tote Katze oder ein totgeborenes Kalb auf dem Hof. Im Bauernalltag gehörte es wie mit dazu. Die toten Verwandten bekamen wir als Kinder nicht zu Gesicht. Die waren einfach mal nicht mehr an den Familienfeiern anwesend.
Anders war es bei Grossvater. Unter demselben Dach aufwachsend, war er immer in meinem täglichen Blickfeld. Auch als Erwachsene ausgezogen, blieb er für mich eine wichtige Bezugsperson, bei dem ich immer vorbeischaute beim Besuch zu Hause. Im würdigen Alter von 90 Jahren bekam er Krebs. Die Diagnose hat den stolzen Mann in die Knie gezwungen. All die anderen Zipperlein hatte er bis dahin unbeeindruckt an sich vorbeiziehen lassen. Er hätte sich einen einfacheren Tod gewünscht, hatte er mir anvertraut.
Der Krebs war fortgeschritten, die aufwendige Pflege konnte niemand von den Angehörigen leisten. Man war selber zu gebrechlich, zu weit weg, zu ungeschult, zu befangen. Er kam auf die Pflegestation des Altersheims im Nachbardorf, wo er gut medizinisch versorgt, seine letzten Tage verbringen konnte. Ich war Mitte Zwanzig, beruflich im Umbruch und frei, den Sterbenden mit einer Tante abwechselnd rund um die Uhr zu begleiten. Ich wusste nicht was auf mich zukam, betrachtete es eher als ein Forschungsprojekt.
Die zwei Wochen prägten mich fürs Leben. Ich erlebte, wie sich der Körper von Tag zu Tag verflüchtigte, die Organe den Dienst quittierten, wie Essen und Flüssigkeitsaufnahme keine Rolle mehr spielten. Ich beobachte, wenn Grossvater döste, wie sich die Seele förmlich von der Materie löste und sich wie eine Katze hinterm Ofenrohr in eine kleine Ecke zusammenrollte, um ihre Ruhe zu haben, um sich zu sortieren. In wacheren Momenten focht Grossvater alte Fehden aus, schimpfte, rang, bereinigte, suchte mit seinen Augen Rat und Versöhnung. Ich verstand seine Worte nicht, ich erahnte nur, dass er mit sich und dem Leben aufräumte.
Erst dachte ich, dass ich ihm helfen müsste, sein Sterben mit Zuspruch zu beschleunigen, als wäre er ein erschöpfter Sportler vor dem Zieleinlauf. Das lange Warten und Zusehen machte mich zum Glück demütig. Ich sah ein, dass das Hinscheiden ein Prozess ist, der uns Aussenstehende nichts angeht, andere Mächte am Werk sind und wir nur Zeugen sind. Es gab Momente des Haderns, ob ich ihn nicht beim Loslassen störte. Doch Grossvater gab mir Zeichen, dass er meine Anwesenheit schätzte. Das freute und entspannte mich.
Wenige Tage bevor sich seine Seele erhob, wurde Grossvater sehr ruhig. Er nahm kaum mehr Kontakt auf mit der Aussenwelt. Es gab eine ältere Betreuerin, die besonnen, würdevoll und voller Liebe dieses sterbende Geschöpf pflegte. Dies berührte mich bis in alle Fasern. Von ihr lernte ich, den inneren Impulsen vertrauend zu singen. Jedes Mal wenn sie Grossvater ins Ohr sang, wandte er ihr den Kopf zu und schien die tröstenden Worte und Laute in sich aufzusaugen. Es war die einzige Mahlzeit, die ihn noch nährte. Ich begann, wenn ich alleine mit Grossvater war, mich zu getrauen selber zu singen. Es waren einfache christliche Lieder aus dem Repertoire der Sonntagsschule und dem Konfirmandenunterricht. Zum ersten Mal erkannte ich ihren Gehalt. Es erfasste mich jeweils eine Heiligkeit – ich hüte mich, dieses Wort zu strapazieren - aber bisher fand ich kein passenderes, um diese Ergriffenheit am Tor zur Anderswelt zu beschreiben.
Als er seinen letzten Atemzug nahm, legte sich eine Ruhe über alles wie eine warme Decke. Ich konnte seine Seele nicht sehen, aber spürte sie das ganze Zimmer fluten, während der Körper leblos in den Laken lag. Ich fühlte mich von einer unbegrenzten, liebenden Dimension umhüllt, die ich jederzeit abrufen kann, wenn ich daran denke. Auch hier und jetzt beim Schreiben.
Natürlich war ich auch traurig über Grossvaters Tod. Doch das Geschenk, die Gnade, Zeugin seines Übergangs gewesen zu sein, überwog und hält bis heute an. Ich bekam einen Geschmack der Ewigkeit, für die spirituelle Dimension unserer Existenz. Es kann mit dem Tod nicht fertig sein. Da lebt etwas weiter. Ich habe weitere Menschen begleiten dürfen und immer wieder dieselbe Erfahrung gemacht. Der Sterbeprozess war bei jedem individuell. Aber der Übergang, die erhabene Präsenz nach dem letzten Atemzug war immer gleich. Meinen „heiligen Raum“ suche und finde ich heute regelmässig in Meditationen und beim Singen.
Bei Grossvaters Abdankung blieb der rechte Platz neben mir in der Kirchenbank erst unbesetzt. Mir war plötzlich, als spürte ich eine leise Berührung und Präsenz, so als hätte sich Grossvaters Geist in die Lücke gesetzt. Vielleicht bildete ich es mir nur ein. Es hätte auf jeden Fall zu ihm gepasst, dass er seine grosse, letzte Show und die Rede des Pfarrers nicht versäumen wollte.