Pfarrers Tupperdose

Sohnemann ist krank. Er hat uns eine Nacht beschert, die wir seit der Kleinkinderzeit so nie mehr erlebt haben. Innert Sekunden aus dem tiefsten Tiefschlaf hochschiessen und mit Waschlappen, Handtuch und Schüssel einsatzbereit sein. Im Stundentakt verlief es letzte Nacht. Zu Spitzenzeiten manchmal im Halbstundentakt oder noch dichter. Was für die SBB-Pendler ein Segen ist, ist für Eltern auf die Dauer eine Folter. Daran erinnere ich mich diesen Morgen, wie ich wie gerädert am grossen Familientisch frühstücke, mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung. Eine Nacht lässt sich wegstecken! Aber meine Zellen vergessen nie die chronische Erschöpfung, als der Jüngste während drei Jahren einfach nicht durchschlafen wollte, als tagsüber sich der Trotzkopf im Supermarkt auf den Boden warf und die Grosse mich die doofste und peinlichste Mutter der Welt fand, als sich mein Körper und meine Seele anfühlten wie ein umgestülpter Gummihandschuh: schlaff, verkehrt und fusselig.

 

Mein Blick fällt auf die orangefarbene Tupperdose, die unsere Lieblingskäse – Sbrinz und Thurgauer Rahmkäse – beherbergt und andere Lebensmittel vor Geruchssemmission schützt. Menschenskind! Die ist ja immer noch bei uns! Das Gefäss gehört der Pfarrersfamilie. Unsere Töchter sind zusammen in die Oberstufe zur Schule und waren Freundinnen. Irgendwann ist diese Tupperdose nach einem ihrer Tratschausflüge zum See in unserem Haushalt gelandet. Ich habe es der pubertären Tochter wirklich einfach gemacht, ich habe die Dose gewaschen und sie neben der Haustür auf die Bank gelegt. Das Objekt hätte mit nur einem Griff der Familie, die bloss hundert Meter Luftlinie von uns wohnt, easy auf dem Schulweg zurückgebracht werden können. 

 

Irgendwann war das Töppy – wie wir Plastikdosen familienintern liebevoll nennen – verschwunden. Ich war zufrieden mit meiner Tochter, dass sie in ihrer Teenager-Ruppigkeit doch noch meiner Bitte nachgekommen ist. Mitnichten! Monate später fand ich in ihrem Zimmer – das damals einer Müllkippe ähnelte – das orange Gefäss vergessen unter einem Stapel Bravo Mädchen. Das ganze Gefühlsrepertoire, das eine Mutter mit drei Kinder in akuten Lebensphasen drauf hat, hatte sich angeschlichen. Aber sollte ich nun wegen einer Tupperdose eine Drama-Inszenierung machen? Nein, dafür hatte ich schlicht keine Energie übrig!

 

Nun das sind mindestens sieben Jahre her! Die Dose wurde nie als vermisst gemeldet und ich habe es einfach nie geschafft, sie zurück zu bringen. Manchmal sind hundert Meter bei Totalerschöpfung einfach zu viel! Und irgendwann vergisst man offene Rechnungen. Das passiert. Das Töppy ist mittlerweile ein Teil unserer Boxes-to-go-Garnitur. Und die grosse Tochter ist ausgezogen.

 

Es gibt so viele offene Loops, Angelegenheiten in meinem Leben, die ich einfach nie schliessen konnte. Drei Kinder, ein Mann, ein Riesenhaus, drei Herzensangelegenheiten (Beruf darf ich das, was ich liebe zu tun, wohl nicht nennen, solange kaum Kohle rein kommt..) und tolle Freundschaften, die alle gepflegt werden möchten. Jajaja, ich könnte ja etwas von all dem rauskippen – Lästerstimme du hast vollkommen recht! Aber das eine wertet das andere auf und macht das Leben rund. Ich bin ein Kind der Vielfalt!

 

Es gibt einfach verschiedene Wichtigkeiten. Das habe ich gelernt, darin bin ich ein echter Profi; im Prioritäten setzen. Auch jetzt wieder mit dem kranken Kind – die Kids kamen immer zuerst! Nestwärme ging immer vor. Heute habe ich zwei Termine abgesagt. Man kann wohl einen 12-jährigen mal ein paar Stunden alleine lassen. Aber nicht einen kotzenden. Man kann eine Zwanzigjährige in die Welt ziehen lassen, aber wenn sie Liebeskummer oder gräuslige Ohrenschmerzen hat – Mama kommt!

 

Darum bin ich beruflich nie auf einen grünen Zweig gekommen. Ich kann nicht mithalten mit dem ganzen Karrierekram. Mittlerweile rasen die 30-jährigen auf der Überholspur an mir vorbei. Ich musste mir doch tatsächlich kürzlich in einer Weiterbildung von so einem jungen Ding anhören, dass so dahergelaufene Hausfrauen, wie ich eine sei, das Niveau des Kurses senken würden. Autsch! Ja, manchmal tut es verdammt weh, den Anschluss im Berufsleben verpasst zu haben.

 

Aber grad jetzt; ich und die Tupperdose finden: es ist ganz in Ordnung so. Kranke Kinder lassen einen auch runterfahren, über Wichtiges nachdenken und die Kirche im Dorf lassen. Vielleicht bringe ich das orange Gefäss irgendwann mal zu Pfarrers zurück mit ein paar gebrannten Mandeln oder so. Vielleicht aber auch nicht.